Call for Papers für die Sektionsveranstaltung auf dem 39. DGS-Kongress in Göttingen, 24.-28.9.2018
Ein diskursiv als Idylle gerahmtes Verständnis von Ländlichkeit ist so alt wie die komplexitätsreduzierende Stadt-Land-Dichotomie selbst. In raumsoziologischen und sozialgeographischen Darstellungen hat dieses Thema aktuell wieder Konjunktur, und eine ›neue‹ Ländlichkeit wird diagnostiziert. Dies bezieht sich auf die mediale Popularisierung vermeintlich ländlicher Alltagspraktiken ebenso wie auf neue Akteure in dörflichen, suburbanen oder innerstädtischen Kontexten. Letztere gelten, etwa wenn sie als ›Raumpioniere‹ bezeichnet werden, als besonders innovativ und mit einem kreativen Veränderungspotenzial ausgestattet.
Mit solchen Raumprojekten und Alltagspraktiken geht zugleich eine Renaissance des Sprechens von Gemeinschaft einher. Dies gilt zum einen für mediale, politische und alltagsweltliche Zuschreibungen an (nicht nur) ländliche Sozial- und Siedlungsformen, wenn etwa Selbstdarstellungen zivilgesellschaftlicher Akteure in ländlichen Räumen den Zusammenhalt ihrer Dorfgemeinschaft als ursächlich für lokale Prozesse betonen. Auch politische Programme setzen gern auf lokal verortbare Gemeinschaften, und die community-led local development (CLLD) hat es bis in die Sprache der aktuellen EU-Förderperiode geschafft. Zum anderen gibt es eine erneute sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem – zumindest von der deutschsprachigen Soziologie – lange ungeliebten bzw. als diskreditiert abgeschriebenen Begriff. Sprach Jochen Gläser 2007 noch von einer nur ›marginale[n] Stellung des Gemeinschaftskonzepts in der Soziologie‹, so finden sich in jüngster Zeit zahlreiche Untersuchungen neuer (und alter) Vergemeinschaftungsformen. Ob enträumlicht, posttraditional, translokal oder intentional – mit unterschiedlichen Attributen ist die Gemeinschaft in den vergangenen Jahren in die allgemeine Soziologie zurückgekehrt. Aus Sicht der Landsoziologie ist dies auch deshalb von Interesse, weil ›Gemeinschaft‹ lange Zeit als gemeinhin dem Dorf zugeschriebener Topos galt.
Romantisierungen von Ländlichkeit und neue Formen von Vergemeinschaftungen finden sich, so der Ausgangspunkt dieses Calls, in Selbst- und in Fremdbeschreibungen der beschriebenen Alltagspraktiken und Projekte. Zugleich bleiben sowohl das Sprechen von der ›neuen Ländlichkeit‹ als auch von neuen Vergemeinschaftungen unter dem Blickwinkel einer wissenschaftlichen Erkenntniserweiterung vage – denn Bezug genommen wird fast immer auf die gleichen Beispiele, ob sie nun ›Landlust‹ oder ›Ökodorf XY‹ heißen. Zugleich aber legt die gesellschaftliche und insbesondere mediale Resonanz auf diese Themen nahe, dass es sich um soziologisch relevante und genauer zu untersuchende Phänomene handelt.
Vortragsvorschläge für die Sektionsveranstaltung können sich an einer oder mehreren der nachfolgenden Fragen orientieren:
- In welchem Verhältnis stehen (romantisierte) Selbst- und (distanzierte) Fremddarstellung? Sind Ländlichkeitund Gemeinschaft geeignete soziologische Konzepte zur Erfassung von Alltagspraktiken? Unterliegen diese aktuell einem Wandel, und wenn ja: inwiefern?
- Welche soziologischen Konzepte und Theorien eignen sich zur Erfassung neuer, gegebenenfalls auch traditionaler Gemeinschaften?
- Lässt sich empirisch eine (neue) Sehnsucht nach Gemeinschaft bestätigen? Wie ist dies soziologisch zu erklären?
- Wer sind die Akteure ›neuer‹ (oder alter) Ländlichkeit? Wie sozial inklusiv bzw. exklusiv sind die neuen Vergemeinschaftungen? Welche Rolle spielen Vorstellungen von Teilhabe, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit?
- Welche Rolle spielen Raum, räumliche Verortungen und Raumaneignungen in (Gemeinschafts-) Projekten neuer Ländlichkeit? Wie werden diese von den beteiligten Akteuren reflektiert? Welche Folgen haben die neuen Raumaneignungen für die betreffenden Orte?
Wir freuen uns auf Abstracts, die Aspekte von Vergemeinschaftungen und/oder neue Ländlichkeit unter diesen und weiteren Fragestellungen aufgreifen. Insbesondere interessieren uns Beiträge mit einem dezidierten Interesse an den sozialstrukturellen und räumlichen Aspekten gemeinschaftlicher Projekte. Willkommen sind auch Vortragsvorschläge, die eine vergleichende Analyse neuer oder traditioneller Vergemeinschaftungsformen in ländlichen und städtischen Räumen vornehmen.
Die Sitzung wird von Annett Steinführer und Lutz Laschewski (beide Thünen-Institut für Ländliche Räume, Braunschweig) organisiert.
Bitte senden Sie Ihre Abstracts (max. 2.400 Zeichen einschließlich Leerzeichen) bis zum 30. April 2018 unter Angabe Ihrer Kontaktdaten an: vergemeinschaftungen(at)landforschung.de