Im öffentlichen Diskurs zur Coronapandemie wurde ein bereits überwunden geglaubtes Altersstereotyp wieder prominent, wonach alle älteren Menschen ab 60 Jahren kollektiv als medizinische Risikogruppe zu gelten haben, ungeachtet der in der gerontologischen Forschung immer wieder belegten hohen gesundheitlichen und sozialen Diversität dieser Altersgruppe. In Verbindung mit der weiter fortschreitenden demographischen Alterung der Gesellschaft ist dies für uns Anlass genug, um den soziologischen Forschungsstand zum Themenfeld ›Alter(n) und Gesundheit‹ kritisch zu bilanzieren und damit auch einen Beitrag zur gesellschaftlichen Aufklärung zu leisten. Neben einer Diskussion aktueller empirischer Befunde soll grundlegend reflektiert werden, ob und wie gegenwärtige theoretische und methodische Zugänge der Alter(n)s- und Medizinsoziologie die gesundheitliche Ungleichheit und Diversität im Alter und Alternsprozess angemessen beschreiben, verstehen und erklären können.
Der Fokus soll insbesondere auf folgenden Themenfeldern bzw. Forschungsfragen liegen:
1. Wie können gesundheitliche Ungleichheiten aus einer Lebenslaufperspektive heraus erfasst werden? Welche Alters-, Kohorten- und Periodeneffekte sind zu beobachten? Ebnen sich gesundheitliche Ungleichheiten mit fortschreitendem Alter ein, überwiegen Kontinuitäten oder verstärken sich die Ungleichheiten, wie dies in den Theorien der kumulativen Ungleichheit behauptet wird? Und schließlich: Wie verändern sich die Befunde, wenn auch hochaltrige Menschen bevölkerungsrepräsentativ und methodisch adäquat untersucht und befragt werden?
2. Welche politischen, massenmedialen und wissenschaftlichen Diskurse strukturieren und dominieren die öffentliche Auseinandersetzung zum Themenfeld Gesundheit und Alter(n)? Welche Auswirkungen haben die Diskurse des erfolgreichen, aktiven und gesunden Alter(n)s auf sozialpolitische Programme, gerontologische Forschungsaktivitäten und individuelles Gesundheits- und Krankheitsverhalten? Wie werden in diesen Debatten individuelle und gesellschaftliche Verantwortlichkeiten adressiert und verhandelt, und mit welchen Alters- und Körperbildern wird dabei argumentiert?
3. Wie können die soziale und politische Teilhabe und Inklusion von älteren und alten Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen gesichert und erweitert werden? Was kann gegen Diskriminierungen und ageistische Strukturen, die sich gegen gesundheitlich eingeschränkte ältere Menschen richten, getan werden? Wie lassen sich die ethischen und gesellschaftlichen Ambivalenzen, die mit einer zunehmenden Medikalisierung des Alterns verbunden sind, mit den Ansätzen der Kritischen Gerontologie erfassen?
4. Welche gemeinsamen (aber auch unterschiedlichen) Verläufe haben die Theorieentwicklungen der Medizin- und Gesundheitssoziologie und der Alterssoziologie seit ihren rollen- und strukturfunktionalen Anfängen in den 1940er/50er Jahren genommen? Welche theoretischen Ansätze bestimmen die aktuellen Diskussionen in beiden Speziellen Soziologien und welche Überschneidungen und wechselseitigen Einflüsse sind dabei zu beobachten?
Die gemeinsame Frühjahrstagung der Sektionen Alter(n) und Gesellschaft & Medizin- und Gesundheitssoziologie (in Zusammenarbeit mit dem HBS Promotionskolleg ›Neue Herausforderungen in alternden Gesellschaften‹ und dem Masterplan Wissenschaft der Stadt Dortmund) soll sich diesen und weiteren aktuellen Fragen mithilfe theoretischer, empirischer und/oder methodischer Beiträge widmen. Dabei sind insbesondere internationale Perspektiven und Vergleiche herzlich willkommen.
Wir freuen uns auf Beitragsvorschläge (Umfang ca. 250 Wörter mit den üblichen Angaben) bis zum 15.11.23 an martina.brandt(at)tu-dortmund.de und ludwig.amrhein(at)fh-dortmund.de. Eine Rückmeldung, ob der Beitrag ins Programm aufgenommen wurde, versenden wir bis Ende des Jahres.