Seit Philippe Ariès seine Geschichte der Kindheit (1975) schrieb, gilt als Konsens der Kindheitsforschung, dass Kinder aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen und in Familien und Schulen einge- schlossen sind. Der niedrige soziale Status des privaten Gutes ›Kindheit‹ überträgt sich dabei potenziell auch auf die soziale Position derjenigen, die in den Institutionen der Kindheit tätig sind, für die Lebensbedingungen von Kindern verantwortlich sind oder sich dafür einsetzen – das reicht von der Bezahlung zuständiger Berufsgruppen bis zur Berücksichtigung von Belangen für Kinder in politischen Entscheidungen. Auch die Kindheitsforschung hat seit Beginn in den 1980er-Jahren mit ihrer öffentlichen Anerkennung zu kämpfen, sie ringt um ihre Stellung in und zwischen wissenschaftlichen Disziplinen. Zugleich kann von einer breiten Etablierung der Kindheitsforschung in der deutschen und internationalen Forschungslandschaft gesprochen werden.
Die Kindheitssoziologie und ihr folgend die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung sind angetreten, um einen ›neuen Blick‹ auf Kindheiten zu entwickeln, der sich dezidiert von traditionellen soziologischen und pädagogischen Konzeptionen abgrenzte und damit auch von den Institutionen und Praktiken der Kindheit, wie sie in der Praxis vorgefunden wurden. Der zentrale Kritikpunkt der Kindheitssoziologie zielte auf die weitgehende Ignoranz sowohl der Politik als auch der Wissenschaft gegenüber der empirischen Ausgestaltung der Lebensphase Kindheit sowie der Lebenswelten, Lebensweisen und Lebenslagen von Kindern. Während der Politik vorgeworfen werden konnte, die Stimmen der Kinder nicht zu hören (Bühler-Niederberger 2005) und sie an relevanten Entscheidungskontexten nicht zu beteiligen, diagnostizierte man den bestehenden Kindheitswissenschaften (allen voran Pädagogik, Entwicklungspsychologie und Medizin) separierende Effekte, die dem faktischen Ausschluss von Kindern aus der Öffentlichkeit und den institutionellen Einschlüssen in erzieherischen, betreuenden, korrektiven oder therapeutischen Anstalten Vorschub leisteten.
Aufwind bekam die Kindheitsforschung mit dem sich seit Ende des 20. Jahrhunderts abzeichnenden Wandel gesellschaftlicher Einstellungen zu Kindern und Kindheit wie etwa die Herausbildung des Sozialinvestitionsstaats, die Verbreitung und Akzeptanz der Kinderrechte, die Ächtung von Gewalt gegen Kinder oder die Adaption kindheitsbezogener Regulationen durch internationale Organisationen wie WHO und World Forum. In diesem Zuge positionierte sie sich durchaus politisch und fungierte als Impulsgeberin, indem sie etwa kindheitsbezogene Wissensbestände erarbeitete und zugänglich machte oder indem sich ihre Vertreter:innen in der politischen Beratung betätigten. Mit Konzepten wie Agency, Voice oder generationaler Ordnung wurde einerseits versucht, mit Kindheit verknüpfte soziale Missstände zu untersuchen, aber auch andererseits die weiteren Öffentlichkeiten (vor allem Politik, Bildung und Recht) für das Anliegen zu sensibilisieren, Kinder gesellschaftlich sichtbar zu machen und einzubeziehen.
Über die Erhebung und Analyse empirischer Befunde zu den Belangen von Kindern hinaus tritt Kindheitsforschung selbst regelmäßig öffentlich für Anliegen der Kinder ein oder stellt Methoden bereit, die geeignet sind, den Partizipationsgrad von Kindern in den sie betreffenden Anliegen zu verbessern und auszuweiten. Diesen sehr unterschiedlichen Ansprüchen und Inanspruchnahmen entspricht auch die interdisziplinäre Institutionalisierung der Kindheitsforschung in Soziologie, Erziehungswissenschaften, Sozialpädagogik, Kindheitspädagogik und Humangeographie. Auch international lässt sich beobachten, dass sich die Kindheitsforschung als Instanz wissenschaftlicher Expertise mit politischem Anspruch versteht, auch wenn dies mitunter zu Absagen an die Zuständigkeit für Kindheit führt: Exemplarisch ist hier die postkoloniale Kritik an einem vom globalen Norden ausgehenden Verständnis von Kindheit zu nennen (Balagopalan 2019), aber auch die Forderung, angesichts der planetaren Konsequenzen des Anthropozäns theoretisch über ›Kindheit‹ hinauszugehen (Spyrou 2017).
Über diese ersten Eindrücke hinaus bleibt die Kindheitsforschung und ihr Verhältnis zu relevanten Öffentlichkeiten jedoch erst noch genauer zu untersuchen – denn ungeklärt ist weiterhin, ob, wie und mit welchen Folgen sich zentrale gesellschaftliche Akteur:innen der Kindheit auf Kindheitsforschung beziehen um Institutionen der Kindheit oder Kindheit als Lebensphase und die Lebenslagen von Kindern zu gestalten. Zuletzt bildeten insbesondere die CoVid-19-Pandemie, die Klimakrise und der Angriffskrieg auf die Ukraine kritische Brenngläser, die für den gesellschaftlichen Status von Kindern zumindest kurzfristig ein öffentliches Bewusstsein zu generieren vermochten – auch wenn die Probe auf das Exempel, Kinder künftig stärker in politischen Krisen zu berücksichtigen und ihnen eine stärkere Partizipation zu ermöglichen, erst noch erfolgen muss. Aber der Spieß lässt sich auch umdrehen: Welches Wissen wird den unterschiedlichen Öffentlichkeiten der Kindheitsforschung zur Bearbeitung kindheitsbezogener Probleme angeboten?
Zu den zentralen Öffentlichkeiten, in denen Wissen und Befunde der Kindheitsforschung Abnahme finden und verhandelt werden (können) und aus denen Impulse für weitere Forschungsfragen generiert werden oder sich generieren lassen, zählen zunächst
- die Wissenschaften selbst und die mit ihnen verbundenen disziplinären Publikumsgruppen,
- die Politik verstanden als ein breites Feld, das institutionalisierte Macht- und Entscheidungskontexte zur Gestaltung von Kindheiten ebenso umfasst wie soziale Bewegungen, die sich der Gestaltung gegenwärtiger und zukünftiger Kindheiten widmen oder von Kindern selbst ausgehen), sowie
- die Institutionen und Professionen der Bildung, Betreuung, Hilfe und Erziehung, von den Kindertagesstätten, Heimen und Schulen bis hin zu den Studiengängen an Hochschulen.
Darüber hinaus kommen auch weitere staatliche und zivilgesellschaftliche Räume als die Öffentlichkeiten der Kindheitsforschung in Frage, so etwa
- das Recht und damit die Institutionen staatsbürgerlicher Ansprüche von Kindern und Familien/Sorgeberechtigten sowie gesetzlicher Vorgaben,
- die Medien als Gatekeeper narrativer Darstellung von und Berichterstattung über Kindheiten, Lebensweisen, Lebenslagen und Lebenswelten von Kindern, oder auch
- der Markt, der recht früh Kinder als eigenständige Konsument:innen entdeckte.
Diese Räume lassen sich als Öffentlichkeiten begreifen, weil anzunehmen ist, dass hier die über die Kindheitsforschung eingebrachten Wissensbestände und Perspektiven in einen Austausch von Interessen eingebunden werden können, die sich vor Dritten zu legitimieren haben.
Dieses unübersichtliche Terrain an wissenschaftlichen, politischen und professionellen Projekten der Kindheitsforschung (und die damit verbundenen organisationalen Mitgliedschaften und sozialweltlichen Zugehörigkeiten ihrer Akteur:innen) einerseits und die verschiedenen Öffentlichkeiten und de- ren Zugangsbedingungen, Sozialstrukturen, Interessenslagen, institutionellen Logiken und Machtressourcen andererseits sollen als Ausgangspunkt der Jahrestagung der Sektion Soziologie der Kindheit 2024 dienen.
Mit einer solchen Perspektivierung zielen wir auf die Bearbeitung und Beantwortung folgender Fragen:
- Welche Problemstellungen, Konzepte und Befunde der Kindheitsforschung finden sich in den verschiedenen Öffentlichkeiten wieder?
- Wie bringen sich Kindheitsforschende und ihr Wissen (unbeabsichtigt) in Diskussionen und Verhandlungen in den unterschiedlichen Öffentlichkeiten ein, wo tun sie dies und warum? Wer sind die relevanten Publikumsgruppen und öffentlichen Arenen der Kindheitsforschung eigentlich und was soll, kann oder will sie darin (nicht) bewirken?
- Welche Expert:innen und welche (Formen der) Expertise zu Kindern und Kindheit werden anerkannt, werden in den diversen Öffentlichkeiten aufgegriffen und ›verarbeitet‹? Wer sind die Auftraggeber:innen und Abnahmemärkte der Kindheitsforschung und ihrer Wissensbestände, Problembeschreibungen, Befunde und politischen Positionierungen und durch wen, wie und wozu werden diese von der Kindheitsforschung produzierten Güter verwendet?
- Wie reagieren lokale, nationale und globale Institutionen der Kindheit auf die Befunde der neuen Kindheitsforschung?
- Wie gestaltet sich das Verhältnis von ›alten‹ Kindheitswissenschaften und ›neuer‹ sozialwissenschaftlicher Kindheitsforschung in den Wissensproduktionen und -verwendungsweisen in unterschiedlichen Öffentlichkeiten?
- Welche Rolle spielen partizipative Forschungsansätze unter Einbezug von Akteursgruppen aus verschiedenen Öffentlichkeiten?
- Welche thematischen, praktischen oder ideologischen Selektionen werden der Kindheitsforschung abverlangt, wenn sie erfolgreich auftreten will?
- Und schließlich: Welche Themen, Gegenstände und Positionierungen der Kindheitsforschung werden nicht eingebracht oder können nicht eingebracht werden und bleiben ›ungehört‹? Welche Einsichten lassen sich dadurch in die Komplizenschaft von Kindheitsforschung mit der gesellschaftlichen Konstruktion/Produktion von Kindheit gewinnen?
Wir laden Kolleg:innen, die sich mit diesen oder ähnlichen Fragen im Schnittfeld von Kindheitsforschung und ihren Öffentlichkeiten beschäftigen, dazu ein, Beitragsvorschläge einzureichen.
Formalia
Entsprechend des breiten thematischen Feldes zu ›Kindheitsforschung und ihre Öffentlichkeiten‹ freuen wir uns über Beiträge zu verschiedenen Formaten:
- Fachvorträge als empirische, historische und/oder theoretisch-konzeptionelle Beiträge zur deutschsprachigen oder internationalen bzw. globalen Kindheitsforschung zu den o.g. Themenfeldern sowie
- Forumsbeiträge in denen offener und vorläufiger eigene Beobachtungen, erste Perspektiven und Theoretisierungen zum Themenfeld über einen eigenen Impuls in einen diskursiven Austausch eingebracht werden.
Die Fachvorträge und Forumsbeiträge werden thematisch im Tagungsprogramm zueinander positioniert. Hinweise zu thematischen oder personellen Verknüpfungen können bereits bei der Einreichung gegeben werden.
Abstracts für Fachvorträge oder Forumsbeiträge sollen 3.000 Zeichen incl. Leerzeichen nicht übersteigen und max. drei Keywords enthalten. Sie können bis zum 18. Dezember 2023 (Frist wurde verlängert) per E-Mail an das Organisationsteam (cfp_jahrestagungkindheit(at)leuphana.de) eingereicht werden.
Weitere Hinweise zur Tagung sowie zur Anmeldung finden sich in Kürze auf https://soziologie.de/sektionen/soziologie-der-kindheit/jahrestagung-der-sektion-soziologie-der-kindheit-2024.
Wir freuen uns auf zahlreiche Beiträge!
Lars Alberth (lars.alberth(at)leuphana.de)
Tanja Betz (tbetz(at)uni-mainz.de)
Karin Kämpfe (karin.kaempfe(at)ph-gmuend.de) Britta Menzel (britta.menzel(at)ism-mz.de)