Gemeinsame Jahrestagung der Sektionen Soziologie der Kindheit und Soziologie des Körpers und des Sports in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) vom 21.09.2017–23.09.2017 an der Universität Trier
Die Frage nach der Materialität des Sozialen prägt die soziologische Debatte seit vielen Jahren. Sowohl in der Soziologie des Körpers und des Sports als auch in der Soziologie der Kindheit sind wichtige Studien mit diesem Fokus entstanden. Unter Rekurs auf neuere Theorien nach dem so genannten ›material turn‹ (Praxistheorien, material orientierte Diskurstheorien, Actor-Network-Theories, poststrukturalistische Raumforschung, neuere Phänomenologien, etc.) wird dabei auch herausgearbeitet, wie und in welcher Weise Kindheiten material verfasst, verändert und gelebt werden.
Dabei zeigen sich in diesen Studien zur materialen Verfasstheit von Kindheit aber auch zwei (bislang unbearbeitete) sozialtheoretische Differenzen zwischen körper- und kindheitssoziologischen Zugängen:
Neuere Forschungen zur Materialität des Sozialen destabilisieren traditionelle Vorstellungen von agency, da für sie ›Akteure‹ vor allem im praktischen Vollzug emergieren und deren Handlungsfähigkeit sich auf heterogene ›Träger‹ verteilt. Menschliche Akteure werden entsprechend stärker als Effekte bzw. Vollzugsorgane von sozio-materialen Prozessen und nicht länger als deren Verursacher oder Auslöser verstanden. In der Kindheitssoziologie hat dies bereits seit den 2000er-Jahren zu entsprechenden Rekonzeptualisierungen kindlicher Agency geführt. In vielen empirischen Studien zeigt sich allerdings weiterhin eine starke Beharrungstendenz substantialistischer Vorstellungen kindlicher Agency, wobei Gründe dafür sowohl in der programmatischen Berücksichtigung kindlicher Perspektiven und Lebenswelten und der (auch materialen) gesellschaftlichen Positionierungen von Kindern gegenüber Erwachsenen liegen dürfte. In der Soziologie des Körpers zeigt sich dahingegen eine deutliche Fokussierung auf erwachsene und jugendliche Körper, die sie trotz der Betonung der Relationalität alles Sozialen der Gefahr aussetzt, einem adultistischen bias zu unterliegen.
Eine zweite offene Frage ist eng daran gekoppelt; sie betrifft die Annahme kompetenter Mitglied- bzw. Teilnehmerschaft an Praktiken und somit Gesellschaft. Das Fehlen von Kompetenz wird in der Körper- und Bewegungssoziologie häufig als Einschränkung oder ›Entfähigung‹ gedacht. Demgegenüber suchen kindheitssoziologische Ansätze vor allem nach Mechanismen, die Kinder von sozialen Anlässen und Praktiken ausschließen, obwohl sie gemessen an ihren körperlichen Möglichkeiten teilnehmen könnten, z.B. an Arbeits- und Sorgetätigkeiten oder politischen Prozessen. Solche Ausschlüsse sind Ausdruck einer generationalen Ordnung, durch die Erwachsenen und Kindern unterschiedliche Rechte und Pflichten und damit Chancen auf Teilhabe an Praktiken zugewiesen werden. Tendenziell aus dem Blick geraten dabei sowohl in kindheits- als auch in körpersoziologischen Forschungsperspektiven die Wechselwirkungen unterschiedlicher Voraussetzungen für Teilnehmerschaft, z.B. inkorporiertes Wissen, die Performanz von Bedürfnissen und Interessen oder die Verfertigung, Zuweisung und Aneignung von Räumen entlang von verschiedenen Differenz- und Statuskategorien. Gegenüber dem kompetenten Vollzug von Praktiken ist gerade der situierte und lebenszeitliche Erwerb (in-)kompetenter Teilnehmerschaft wenig erforscht.
Diese bislang nicht bearbeiteten Differenzen und Blindstellen stehen beispielhaft für das analytische Potenzial des Austauschs zwischen kindheits- und körpersoziologischen Überlegungen.
Die gemeinsame Jahrestagung will sich deshalb Fragen widmen, die in der Auseinandersetzung mit Materialitäten der Kindheit – dh. den Beziehungen zwischen Räumen, Dingwelten und Körpern in der gesellschaftlichen Konstruktion von Kindheit und Kinderleben entstehen. Sie fragt nach dem analytischen Gewinn einer in diesem Sinne materialistischen Perspektive auf Kindheit sowie nach dem originären Beitrag, den die Analysen von Kindheit für die Debatte über die heterogenen Materialitäten des Sozialen erbringen könnten.
Wir suchen deshalb nach Vorträgen, die Materialitäten von Kindheit konzeptuell reflektieren und/oder empirisch untersuchen. Beiträge könnten sich beispielsweise mit folgenden Fragen beschäftigen:
- Welche Konsequenzen ergeben sich für materialistische bzw. körpersoziologische Zugänge aus der sozialen Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen? Wie wird diese Unterscheidung in Praktiken hervorgebracht und wie erlangt sie materiale Verfasstheit? Welche programmatischen Positionen der Kindheitssoziologie bilden umgekehrt eine Barriere für die Rezeption neuerer materialistischer Sozialtheorien?
- Wie werden Kinderkörper als Teilnehmer an sozialen Prozessen hervorgebracht, wie werden sie als Akteure relevant gemacht? In welchen Praktiken mit ihren jeweiligen Raum-/Dingordnungen wird die Unterscheidung zwischen Erwachsenen- und Kinderkörpern wie erzeugt und realitätsmächtig gemacht? Wie prägt diese Unterscheidung die Körper? Und wie prägen Kinderkörper, umgekehrt, ihre jeweiligen Umwelten? Wie sind Körper bzw. Leiblichkeit und Materialität in theoretischer Hinsicht aufeinander zu beziehen?
- Welchen Stellenwert haben Bewegung und Sport für die Konstitution von Kind-Sein und Erwachsen-Sein? Wie prägen sie Kinderkörper und bringen sie als solche hervor? Gibt es in spezifischen Bereichen vielleicht auch Momente, in denen die sonst fast omnipräsente Unterscheidung ausgesetzt wird (z.B. im Leistungssport)?
- Wie werden Kinder und Kinderkörper im Zuge von räumlicher Strukturierung hervorgebracht und als solche relevant gemacht? Wie werden, umgekehrt, Räume als spezifische Kinder- oder Erwachsenenräume geprägt? Und welche Unterschiede zeigen sich hier zwischen Kindergruppen (soziale Ungleichheit)? Welche Ermächtigungen und Aneignungen sind mit den Raumpraktiken von Kindern verbunden? Welche Prozesse räumlicher Entgrenzung werden wie für Kindheit und Kinderleben relevant?
- Welche Dinge konstituieren welche Kinder- und Erwachsenenwelten sowie deren Bewegungsräume? Wie wird durch das An- und Zuordnen von Dingen und ihrer Vernetzung das Soziale generational geordnet? Wie wird die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen durch Dinge, Gegenstände und Architekturen gestützt oder (kurzfristig) übergangen? Lösen sich generationale Differenzierungen durch den Einsatz ›neuer Medien‹ auf, werden sie transformiert oder befestigt?
- Wie sind Lernen, Bildung, Entwicklung und Sozialisation unter Einbezug der Materialitäten der Kindheit zu denken und zu erforschen?
- Welche methodologischen Ansprüche und Möglichkeiten ergeben sich aus einer stärkeren Berücksichtigung der körperlichen, räumlichen und dinglichen Verfasstheit von Kindheiten in der Forschungspraxis und wie reagieren kindheits- und körpertheoretische Ansätze auf die Herausforderung der forschungspraktisch nicht auflösbaren Asymmetrie zwischen Kindern und Erwachsenen?
Vortragsangebote von etwa einer Seite (ca. 2500 Zeichen) und Angaben zu Ihrer Person von etwa einer halben Seite senden Sie bitte bis 15. März 2017 per Email an die Organisator_innen der Tagung: koerper-kindheit(at)ish.uni-hannover.de
Organisations-Team
Dr. Lars Alberth (Leibniz Universität Hannover), Prof. Dr. Thomas Alkemeyer (Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg), Vertr.-Prof. Dr. Sabine Bollig (Universität Trier), Vertr.-Prof. Dr. Florian Eßer (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), Dr. Larissa Schindler (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)