Arbeitskreis "Religion und Frieden"

Arbeitskreis ›Religion und Frieden‹

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Ansprechpartner: Alex Yendell


Der Arbeitskreis (AK) zum Thema Religion und Frieden wurde am 7. Juli 2022 von 14 Mitgliedern der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gegründet. Dies geschah unter dem Eindruck des am 24.02.2022 unter der Führung Vladimir Putins begonnenen und von vielen demokratischen Staaten als völkerrechtswidrig verurteilten russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die unter anderem durch das orthodoxe Patriarchat in Moskau vorgenommene Legitimierung des Angriffs sowie die gegen diesen gerichteten Friedensappelle religiöser und interreligiöser Gruppierungen aus der ganzen Welt lenken die Aufmerksamkeit der Religionssoziologie verstärkt auf das Konflikt- sowie auch das Friedenspotenzial der Religionen. Die Bedeutung von Religionsgemeinschaften für Friedensprozesse und der Diskurs über Krieg und Frieden innerhalb von Religionsgemeinschaften bedürfen religionssoziologischer Analyse und Reflexion. Der Arbeitskreis hat es sich deshalb zum Ziel gesetzt, den religionssoziologischen und sozialwissenschaftlichen Diskurs zum Thema ›Religion und Frieden‹ in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen, zum wissenschaftlichen Informationsaustausch beizutragen sowie politische Beratung zu betreiben.

Die Konstruktion und Dekonstruktion konfliktanfälliger religiöser Weltanschauungen kann von der Religionssoziologie eingehend untersucht werden. Die Bildung und Auflösung religiöser Identitäten sowie die sich damit verbindenden religionspolitischen Strategien, die zu massiven Bedrohungsszenarien, Freund-Feind-Ideologien und geopolitischen Machtansprüchen führen, diese legitimatorisch untermauern und einbetten, stellen einen wichtigen religionssoziologischen Untersuchungsgegenstand dar. Im Sinne einer differenzierten Perspektive ist ein kritischer Blick auf die religiöse Heterogenität von Gesellschaften und damit auf religiöse Sichtweisen in der Bevölkerung zu richten. Dort sind essentialistische Gruppenidentitäten am Werk, die das Wesen kriegerischer Auseinandersetzungen ausmachen können, die aber auch im Gegenteil oftmals eine Offenheit gegenüber anderen Kulturen, Religionen, Ethnien und Nationalitäten und damit ein signifikantes Friedenspotential bergen. Religiöse Motivation und pseudoreligiöse Identitätskonstruktionen können auch hinter den aktuellen Kriegshandlungen stecken.

Religiöse Denk- und Darstellungsformen bilden historisch wie auch gegenwärtig zentrale Orientierungsmuster für soziale und politische Bewegungen. Das Soziale reflektiert sich religiös.  Schon die frühe Religionssoziologie bei Emile Durkheim, Max Weber und Ernst Troeltsch behandelte deshalb die gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Wirkungen der Religion. Das Spektrum zwischen westlichem Individualismus und östlichem Kollektivismus, wie es sich in der Neuzeit durch die Auswanderung christlicher Sekten nach Amerika sowie die von ihnen ausgehenden Freiheitsrevolutionen und Menschenrechtserklärungen einerseits und die kommunistischen Revolutionen des Ostens in Russland und China mit ihrer Massenorganisation andererseits entwickelt hat, ist wesentlich auch religiös motiviert. Der daraus entstandene Widerstreit der gesellschaftlichen Systeme ist religionssoziologisch zu erörtern, gerade auch wenn Russland sich nach Auflösung der Sowjetunion gegen eine weltpolitische Marginalisierung wehren zu müssen behauptet. Die konfessionellen Unterschiede zwischen freien westlichen, vorwiegend protestantischen Denominationen und staatsnaher Orthodoxie im Osten sind im globalen und vor interreligiösem Horizont zu bedenken. Die sich für viele Menschen, nicht nur durch Fluchtmigration, schicksalhaft auftuenden Alternativen sind verstärkt religionssoziologisch zu analysieren.

Spätestens seit den Terroranschlägen vom 9. September 2011 in den USA ist innerhalb der Religionssoziologie eine stärkere Fokussierung auf die Konflikthaftigkeit von Religion zu beobachten, die sich u. a. an einer wachsenden Anzahl einschlägiger Forschungsprojekte und Publikationen zeigt. Mit dem Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer politischer Bewegungen und Parteien sowie flankierend der zunehmenden Verbreitung von Verschwörungsmythen, auch und gerade während der Coronapandemie, konnte die Religionssoziologie ein weiteres Forschungsfeld mit Religionsbezug erschließen. Weil die negativen Dimensionen menschlichen Zusammenlebens vielfach religiös zum Ausdruck kommen, ist es den Mitgliedern des AK wichtig, den im Diskurs vernachlässigten Zusammenhang von Religion und Frieden gesondert in den Blick zu nehmen. Dies hat praktische Bedeutung auch deshalb, weil neben den Friedensappellen von Religionsgemeinschaften religiöse Friedensbewegung weiterhin wirken, auch wenn sie gegenwärtig nicht so präsent sind wie in der Ära des Kalten Krieges.

Bei einem Online-Treffen am 16. März 2022 trugen Interessierte aus dem Arbeitskreis Forschungslücken und zentrale Themenschwerpunkte zusammen, mit denen sich der AK künftig aus religionssoziologischer Perspektive beschäftigen könnte.

1.) Innerhalb des religionssoziologischen Diskurses in westlichen Demokratien ist ein bislang weitgehend fehlender Zugang zur Soziologie der griechischen und russischen Orthodoxie zu entwickeln, der für das Verständnis von orthodox geprägten Regionen und – wenigstens mittelbar – des Krieges in der Ukraine von gravierender Bedeutung ist. Zu beleuchten ist ferner das Verhältnis von Staat und Kirchen in Ost- und Südosteuropa. Ebenso bedeutsam ist eine soziologische Perspektive auf die kulturellen und historischen Kontexte in Südosteuropa. Dabei rücken auch die altorientalischen Kirchen in den Fokus.

Wie der Islam mit seiner eigenen Differenzierung namentlich in eine sunnitische und eine schiitische Richtung sowie mit Abspaltungen, u. a. Ahmadiyya-Muslimen und mystischen Sufis, sich zum sozial-religiösen Spektrum des Christentums verhält, ist eigens zu thematisieren. In einigen europäischen Staaten stellt er die Mehrheitsreligion, und in multireligiösen Gesellschaften spielt er zunehmend eine bedeutende Rolle. Das konfliktreiche, schwer belastete Verhältnis von Israelis und Palästinensern im Nahen Osten könnte ebenso vom Friedenspotenzial der Religionen profitieren. Christliche und muslimische Militärkräfte sind im sog. Bosnienkrieg, der von 1992 bis 95 dauerte, aufeinandergetroffen. Ähnlich wie jetzt im Ukrainekrieg kam es völkerrechtswidrig zu Massakern und Massenvergewaltigungen. Diesem Krieg hat die internationale Gemeinschaft endlich Einhalt gebieten können.

2.) Es wird konstatiert, dass innerhalb der Religionssoziologie bereits seit Längerem ein komplexer Diskurs über Friedfertigkeit, Pazifismus und Gewaltverzicht religiöser Gemeinschaften und Akteure existiert, dieser allerdings vom Arbeitskreis weiter vorangetrieben werden sollte.

3.) Ein Schwerpunkt liegt ferner in der Fokussierung auf regressive Entwicklungen mit gesellschaftlichen Zersetzungspotentialen, wie sie mit Nationalismus, Rassismus und Anti-Genderismus korrespondieren, die als Phänomene ihrerseits nicht selten religiös unterfüttert sind. In den Blick genommen werden sollen zugleich strukturelle Parallelen zwischen fundamentalistischen Religionsinterpretationen und politischem Autoritarismus, die sich in Ungleichwertigkeitsvorstellungen äußern und einer stereotypen Aufspaltung der Welt in ›Wir‹ und ›die Anderen‹ bzw. ›Gut‹ und ›Böse‹ Vorschub leisten. Hiergegen richtet sich das normative Projekt der Moderne mit seinen politisch-liberalen Entwürfen und Religionsinterpretationen. Der Konflikt zwischen einer militärischen Verteidigung der Freiheit, der Anerkennung der Menschenrechte einerseits und einem auch politischen Gewaltverzicht im Horizont der atomaren Bedrohung sowie religiöser Friedfertigkeit andererseits soll neu aufgegriffen werden.

4.) Das Thema Geschlechterordnung und Gender mit Religionsbezug erfährt im Arbeitskreis spezielle Aufmerksamkeit, weil in Kriegen für gewöhnlich eine traditionelle Geschlechterordnung vorherrscht und die Antriebe toxischer Männlichkeit offensichtlich immer wieder fortgesetzt als Kriegstreiber wirken.

5.) Das Verhältnis der Religionssoziologie zur aktuellen Konfliktpsychologie (Konfliktmanagement, Interaktionspsychologie, Entwicklungspsychologie) ist interdisziplinär, dabei auch durch Referat und Erfahrungsaustausch, zu intensivieren.

In regelmäßigen Abständen soll der Sektion Religionssoziologie über die Leistungs- und Projektbereiche sowie über Fortschritte und Schwierigkeiten im Arbeitskreis berichtet werden.

 

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